Die Wiedervereinigung Deutschlands liegt inzwischen über 35 Jahre zurück, doch die Debatte um Ost- und Westdeutschland bleibt weiterhin relevant. Oft wird „der Osten“ in der öffentlichen Diskussion als rückständig und problematisch dargestellt[1], während „der Westen“ als Maßstab der Normalität gilt, an die der Osten sich anpassen muss.
Diese Perspektiven sind jedoch oft einseitig. Es sind vor allem westdeutsche Medien[2] und Stimmen, die über „den Osten“ sprechen, und dabei häufig die Realität und die Stimmen der ostdeutschen Bevölkerung nicht ausreichend miteinbeziehen[3]. Beispiele dafür sind Schlagzeilen, wie „Wir halten den Solidaritätszuschlag weiterhin für falsch“ „Der enorme Arbeitskräftemangel im Osten – und wie die Wahlen ihn verschärfen“ und „Wahlen in Sachsen & Thüringen: Brauchen wir die Mauer zurück?“, die allesamt von westdeutschen Medienhäusern stammen. Um den marginalisierten ostdeutschen Stimmen Gehör zu verschaffen, bietet die Methode der Oral History eine Möglichkeit, persönliche Erfahrungen und Perspektiven in den Vordergrund zu rücken, um die Sichtweisen und Stimmen im Diskurs zu diversifizieren. Vor diesem Hintergrund wurden auch die Fragen in den geführten Interviews sehr offen gestellt, um den Interview-Partner:innen zu ermöglichen, eigene Schwerpunkte zu setzen.
Ost- und Westdeutsche Identitäten
Ein Beispiel für die immer noch bestehenden Unterschiede stellen Umfragen zur Zufriedenheit in Gesamtdeutschland dar: viele Ostdeutsche haben das Gefühl, keinen gerechten Anteil an der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklung zu erhalten, dieses „Gefühl der Benachteiligung“ entsteht allerdings häufig erst durch den Vergleich mit dem Westen, der als Norm gilt.
Ein zentraler Punkt, der sich in den Interviews zeigte, war der unterschiedliche Umgang mit der Wende. Während eine ostdeutsche Interviewpartnerin meinte, „die DDR hätte meinetwegen noch 100 Jahre bestehen können“[4], brachte ein westdeutscher Teilnehmer die Wende mit „großer Freude“[5] in Verbindung. Diese gegensätzlichen Gefühle verdeutlichen, wie unterschiedliche Perspektiven die Wahrnehmung von geschichtlichen Ereignissen prägen.
Ein weiterer Unterschied in der Wahrnehmung bezieht sich auf die Geschwindigkeit der Wiedervereinigung. Zwei der interviewten Personen, die aus Ostdeutschland stammen, empfanden die Wende als zu schnell und überwältigend: „Auch die, die gegen den Staat waren, wollten das System nur verändern […] da wollte keiner den Untergang“, sagte eine der befragten Personen. Im Gegensatz dazu lobte eine westdeutsche Person die Schnelligkeit als einen positiven Faktor der Wiedervereinigung.
Diese unterschiedlichen Perspektiven führen oft dazu, dass gleiche Themen zu sehr unterschiedlichen Diskursen führen, wobei der westdeutsche oft den ostdeutschen Diskurs übertönt. Stellvertretend dafür steht die Definition des Demokratiebegriffes, der in zwei Interviews zum Thema wurde:
Die politischen Umbrüche in der DDR wurde von einem „gewaltigen Vertrauensvorschuss begleitet“[6] , der allerdings enttäuscht wurde. Grund dafür kann in der fehlenden Mitgestaltung der Institutionen gefunden werden, „die er [der Ostdeutsche] nur als bürokratische Vollzugsmaschinen, aber nicht von innen kennt“[7]
Aus diesem Grund ist die Aussage der ersten Interviewpartnerin nur verständlich, wenn sie sagt: „ich habe zum Beispiel nach der Wende nichts mehr gemacht auf der politischen Ebene“[8]. Diese Frustration sowohl mit dem alten als auch dem neuen System wird dann aus westdeutscher Perspektive oft ohne die nötige Nuance interpretiert, wozu es schnell zu Missverständnissen kommen kann.
Auch die Frage nach der Gleichstellung der Geschlechter war ein Thema, das in den Interviews unterschiedlich thematisiert wurde. Eine ostdeutsche Teilnehmerin[9] betonte, dass Frauen in der DDR mehr Rechte gehabt hätten, und bedauerte die heutigen Entwicklungen, insbesondere in Bezug auf den Abtreibungsparagraphen: „Die Frauen im Westen sind weniger emanzipiert. Die tun mir leid“.
Die Rolle der Emotionen und persönlichen Erfahrungen
Besonders in den Interviews mit Personen, die in der DDR aufwuchsen, zeigt sich die Bedeutung von Emotionen und persönlichen Erlebnissen für die Bewertung der Wende. Während einige Teilnehmer das Gefühl von Angst und Unsicherheit betonten, erinnern sich westdeutsche Stimmen oft an die Aufbruchsstimmung und die neugewonnene Freiheit. Diese emotionalen Unterschiede prägen bis heute die Sicht auf die Wiedervereinigung und erklären, warum eine Annäherung zwischen Ost und West so schwierig bleibt.
Eine Interviewpartnerin[10] erzählte: „es gab keinen Fahrradwimpel, du bist irre geworden… konnte ich ihr [Tochter] nicht kaufen […], über den Fahrradwimpel ärger ich mich heute noch […], da hatte ich richtig Wut, weil ich meinem Kind nicht mal so ein piffriges Geschenk machen konnte“. Laut eigener Aussage hat all die Wut sie nicht dazu bewegt, das System abzulehnen. „Man hat […] gemeckert“, aber mehr auch nicht, die Frustration schlug nicht zwingend in Willen zu Veränderung um[11]. Das ist ein Aspekt, der oft aus westdeutscher Perspektive vernachlässigt wird und warum die verschiedenen Perspektiven so unglaublich wichtig sind.
Fazit
Die Wiedervereinigung hat Deutschland also formal geeint, aber die unterschiedlichen Erfahrungen und Wahrnehmungen von Ost- und Westdeutschen bestehen weiterhin. Um diese Gräben zu überbrücken, ist ein offener Dialog nötig, der alle Perspektiven ernst nimmt. Nur durch den Austausch von persönlichen Geschichten und den Respekt vor den verschiedenen Erfahrungen kann eine wirkliche Einheit erreicht werden. Die Debatte um die Unterschiede zwischen Ost und West ist also längst nicht abgeschlossen – sie bedarf weiterhin der Reflexion und des gegenseitigen Verständnisses für die verschiedenen Wahrnehmungen. Es muss anerkannt werden, dass die Wende aus verschiedenen Perspektiven durchaus zu unterschiedlichen Wahrnehmungen und Meinungen geführt hat. Nur wenn man diese Pluralität anerkennt, können die Perspektiven konstruktiv nebeneinander existieren.
[1] Vgl. Oschmann, Dirk: Der Osten: Eine westdeutsche Erfindung. Berlin, 2023, S.89.
[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/321433/umfrage/medienunternehmer-mit-dem-groessten-vermoegen-in-deutschland/ (die größten Medienhäuser)
[3] Vgl. Vogel, Lars et al. (Hg): Ostdeutschland Identität, Lebenswelt oder politische Erfindung? Wiesbaden 2024, S.318.
[4] Interview 1
[5] Interview 4
[6] Schroeder, Wolfgang und Buhr, Daniel: 30 Jahre Transformation und Vereinigung – Forschungsstand, gesellschaftliche Problemlagen, Gestaltungsperspektiven, Enders, Judith C. et al. (Hg.): Deutschland ist eins: vieles Bilanz und Perspektiven von Transformation und Vereinigung. Frankfurt/New York, 2021, S.77-158, S.102.
[7] [7] Oschmann, Dirk: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Berlin, 2023, S.97.
[8] Interview 1
[9] Interview 1
[10] Interview 1
[11] Interview 1