1 Einleitung
Das History Dialoges Programm soll dazu dienen, den in der Geschichtsforschung
unterrepräsentierten Gruppen eine Stimme zu geben und tiefer in die Geschichte
und in die Schicksale dieser Personengruppen zu blicken. Bei dieser Arbeit handelt
es sich um eine Recherche zu der gesellschaftlichen Gruppe der Lehrer*innen.
Lehrer*innen haben schon immer die Aufgabe Wissen zu vermitteln und gleichzeitig
ihre Schüler*innen gesellschaftskonform zu erziehen. Sie sind somit Träger einer
großen Verantwortung, da sie die zukünftigen Generationen ausbilden und viel
Einfluss auf spätere Lebensentscheidungen von ihren Schüler*innen haben können
(vgl. Warnecke, 2011). Besonders interessant ist es, den Blick auf Situationen zu
lenken, in denen Lehrer*innen in politischen Systemen und Gesellschaften aktiv sind,
die nicht unserer westlichen Ideologie folgen und in denen Werte wie Freiheit, oder
Gleichberechtigung nicht von höchster Priorität sind. Hier kann sich der Beruf des
Lehrers/Lehrerin von Land zu Land dramatisch voneinander unterscheiden und
Lehrer*innen könnten Schwierigkeiten haben sich an ein neues (westliches)
politisch-gesellschaftliches System zu gewöhnen, wenn es in ihrem Land zu einem
politischen Wandel kommen sollte.
Als Beispiel für eine solche Situation dient die Wiedervereinigung Deutschlands und
der Zusammenbruch der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). Die
Lehrer*innen, die zu dieser Zeit unterrichteten und in der DDR tätig waren, mussten
sich nach dem Mauerfall an das westliche System der Bundesrepublik Deutschland
(BRD) anpassen und alle Verhaltensweisen aus dem sozialistischen DDR-System
ablegen (vgl. Martens, 2020). Genau um diese Personengruppe soll es in der
folgenden Untersuchung gehen, denn die Perspektive der Lehrer auf die Wende ist
oft unterrepräsentiert. Zwar findet sich viel Literatur zum allgemeinen Aufbau des
DDR-Schulsystems, doch speziell zum Thema, wie Lehrer*innen die Veränderungen
nach der Wende aufnahmen, ist kaum etwas zu finden. Daher soll ihre Geschichte
erzählt werden und die zentrale Frage, wie die ehemaligen DDR-Lehrer*innen mit
dem Systemwandel umgegangen sind und wie sie ihn bewältigt und organisiert
haben, im weiteren Verlauf dieser Arbeit beantwortet werden.
Dazu wird in Kapitel 2 zunächst die grundlegende Rolle der Lehrer in der DDR
geklärt, woraufhin ein Vergleich der Schulsysteme von DDR und BRD folgt (Kapitel 2.1).
Kapitel 2.2 erörtert die Wichtigkeit der Ideologievermittlung in der DDR. Kapitel
3 bis Kapitel 3.3 bilden den analytischen Kern der Arbeit und beantworten die
Leitfrage, wie genau Lehrer mit dem Systemwandel umgegangen sind, in dem
konkret auf drei verschiedene Lebensbereiche von Lehrer*innen geblickt wird.
Kapitel 4 ist eine Reflexion der Lehrer, wie sie nach über 30 Jahren Mauerfall die
Veränderungen an ihrem Arbeitsplatz einschätzen. In Kapitel 5 wird die Analyse
abgeschlossen und das Fazit dieser Recherchearbeit präsentiert.
2 Lehrer in der DDR
Lehrer*innen spielen bei der Erziehung von Kindern eine maßgebliche Rolle. Sie sind
häufig eine enge Bezugsperson für Kinder und Jugendliche und sind fast täglich in
Kontakt mit ihren Schüler*innen, was den Einfluss der Lehrpersonen auf die
Schüler*innen umso mehr verstärkt: „Das Verhältnis zueinander war in Tausenden
von Unterrichtsstunden und während zahlreicher gemeinsamer Erlebnisse über die
Jahre hin gewachsen und durch gegenseitige Achtung geprägt“ (Parr, 2014, S. 101).
Erziehung ist Wertevermittlung und die Vermittlung von korrekten Verhaltensweisen
innerhalb der Gesellschaft. Neben der Aufgabe den Schüler*innen den
Unterrichtsstoff nahezulegen und ihnen das Lesen, Schreiben und Rechnen
beizubringen, ist die Lehrperson auch verantwortlich für den konkreten Inhalt des
Unterrichtsstoffes. Sie entscheidet (teilweise) welche Lektüre gelesen wird, worüber
im Klassenraum diskutiert werden darf und welche Aussagen und Handlungen der
Schüler*innen eine Bestrafung verdienen. Beeinflusst sind Lehrer*innen dabei selbst
von ihrer Peripherie und ihrer persönlich erlebten Erziehung (vgl. Warnecke, 2011 &
vgl. Parr, 2014, S.100-101).
In der DDR lehrten die Lehrer*innen innerhalb eines sozialistischen Regimes. Der
Sozialismus war laut DDR Führung (SED) das einzig wahre System und genau diese
Ansicht musste den Bürger nahegelegt werden. Jede neue Generation, die nach der
Gründung der DDR dort aufwuchs, ging in sozialistisch geprägte Kindergärten und
Schulen. Dort wurde den Kindern die sozialistische Lebensweise und das System
täglich vorgelebt. Sie sollten zu guten sozialistischen Persönlichkeiten erzogen
werden, die der DDR treu dienen und das System nicht infrage stellen: „Ein im Sinne
der SED-Ideologie denkender und handelnder Mensch ist eine sozialistische
Persönlichkeit. Solche Persönlichkeiten zu erziehen ist erklärter Auftrag aller
kulturellen und bildungspolitischen Bemühungen der Partei“ (Knopke, 2007, S.68).
Doch wie genau sah der Unterricht an Schulen in der DDR aus und wie unterschied
sich dieser als Vergleich vom Unterricht in Schulen der BRD? Diese Frage wird im
nächsten Unterkapitel behandelt.
2.1 Schule in der DDR und BRD vor 1989
Der Unterricht in der DDR unterschied sich deutlich von den Unterrichtsformen der
BRD und denen aus heutiger Zeit. Ein wichtiger Unterschied war die Konstellationen
der Schulen. In der DDR gab es die Polytechnischen Oberschulen, an denen
Schüler*innen von der ersten bis zur zehnten Klasse stets im selben Klassenverbund
blieben. Nach der achten Klasse war es möglich auf eine erweiterte Oberschule zu
wechseln und dort sein Abitur zu machen (heute würde man diese Schulen als
Gymnasium bezeichnen). In Westdeutschland war das Schulsystem bereits ähnlich
wie heute. Es gab die Grundschulen und je nach Region wechselte man nach 4 bis
6 Jahren auf die Haupt- oder Realschule und die leistungsstärksten Schüler*innen
aufs Gymnasium (vgl. Kerbel, 2016 & vgl. Knopke 2007, S. 57).
Ein weiterer Unterschied, der auf viele Lehrer*innen Auswirkungen hatte und auf den
im weiteren Verlauf dieser Arbeit genauer eingegangen wird, war der
Russischunterricht. Die DDR war ein sozialistischer Staat. Das Leitbild des Sozialismus
war die Sowjetunion, in der die Amtssprache Russisch war, wodurch Russisch für
alle Schüler*innen der DDR zu einem Pflichtfach und wurde als erste Fremdsprache
im Lehrplan feststand. Zum Vergleich war im Westen hingegen die erste
Fremdsprache, wie auch heute immer noch, Englisch. Englisch war jedoch die
Sprache des westlichen kapitalistischen Systems und daher in der DDR nicht als
Pflichtfach, sondern nur als Wahlfach belegbar (vgl. Nussbücker, 2020, S. 31ff.).
Das Fach Staatsbürgerkunde ist ein markanter Unterschied zum BRD-System, da es dort kein vergleichbares Fach gab.
Das Fach galt dazu, die Schüler*innen zu treuen Anhängern der SED heranzuziehen
und in ihnen das Feindbild des westlichen Kapitalismus zu festigen. In Realität
diente das Fach der SED oft als Möglichkeit, die Systemtreue der Schüler*innen und ihrer Familien zu überprüfen (vgl. Jehle, 2018). Die Note im Staatsbürgerkundeunterricht wiegte
meistens mehr als alle anderen, wenn es z.B. darum ging einen Studienplatz zu
bekommen, woran klar zu erkennen ist, wie viel Einfluss das Streben der SED nach
absoluter sozialistischen Wertevermittlung auf die Schule hatte (vgl. Jehle, 2018).
Des Weiteren gab es Unterricht in der Produktion. Dieser Unterricht sollte auf die
zukünftige Laufbahn als guter Arbeiter in der DDR vorbereiten und den
Schüler*innen einen Einblick in die Produktionsfirmen bieten, um sich schon im
jungen Alter Präferenzen für den späteren Beruf ausmachen zu können. Auch der
Wehrunterricht sollte die Schüler*innen auf eine potenzielle Zukunft im Militär oder
auf einen möglichen militärischen Einsatz im Zuge eines Notfalls vorbereiten (vgl.
Dormann, 2007, S. 43ff.).
Der Geschichtsunterricht verfolgte strikt die marxistische Geschichtsschreibung und
lehrte das Fach Geschichte als die „Geschichte der Klassenkämpfe“ (Michalsky,
2002). Die Schlussfolgerung daraus war, dass auch die Literatur dementsprechend
angepasst war und nur sozialistische Historiker und Philosophen im Unterricht
behandelt wurden. Selbes gilt auch für den Deutschunterricht, denn auch hier
wurden die Schriftsteller und Literaten gefiltert und nur Autoren gelesen, die dem
sozialistischen System positiv gegenüber standen bzw. (vgl. Michalsky, 2002).
Die Lehrpläne waren für die gesamte DDR von der SED einheitlich vorgegeben und
nicht wie in der BRD von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Ein weiteres
Unterscheidungsmerkmal war, dass der Lehrplan in der DDR eine deutlich
intensivere naturwissenschaftliche Ausbildung vorsah als es der westdeutsche
Lehrplan es tat (vgl. Michalsky, 2002).
In der DDR gab es zu dem die Fahnenappelle, das Morgenlied, die
Pionierorganisationen und die Freie Deutsche Jugend (FDJ). All diese Institutionen
dienten zur Erschaffung eines DDR weiten Gefühls von Zugehörigkeit zum Vaterland,
zur Festigung der Treue zur DDR und SED und somit schlussendlich zur Festigung
des Sozialismus (vgl. Poßner, S.145-148).
2.2 Ideologievermittlung
Wie aus dem vorherigen Kapitel entnommen werden kann, gab es einige
Schulfächer, die sich besonders stark von den Inhalten aus westlicher (und somit
auch heutiger) Sicht unterscheiden. Allen voran die Fächer Staatsbürgerkunde,
Geschichte und Deutsch.
Die Lehrkräfte und Schulen waren für die Vermittlung der sozialistischen Ideologie
somit von zentraler Bedeutung. Dennoch sahen sich Lehrer*innen in der Regel vom
eigenen Selbstbild her nicht als „Ideologievermittler“. Viele Lehrer*innen gingen
schlicht weg ihrer Arbeit nach und erledigten diese, wie sie von ihnen verlangt
wurde. Fahr unterschied sich die Selbstwahrnehmung der DDR Lehrer*innen nicht deutlich von der Selbstwahrnehmung westdeutscher Lehrer*innen (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & vgl. Wienecke, 2021, S. 99). Dass sie
indirekt die für die SED, sehr wichtige Aufgabe hatten, die Werte der sozialistischen
Gesellschaft weiterzugeben, war den Lehrer*innen nur in geringem Ausmaß aktiv
bewusst, denn es würden sich kaum Lehrer*innen rückblickend als Instrumente der
SED identifizieren. Die meisten Lehrer*innen sind überzeugt, dass sie während ihrer
Tätigkeit als Lehrperson schlicht die klassischen Aufgaben einer Lehrkraft erfüllten.
Die (Be)Wertung der Tätigkeit als DDR-Lehrer*in mit einer negativen Konnotation ist
ein Phänomen aus der westlichen Perspektive und wird von vielen DDR-Lehrer*innen sehr negativ empfunden, da diese zum Großteil nur das Beste für ihre
Schüler wollten und sich weit entfernt von irgendeiner Art von Schuld bzw.
Teilnahme am DDR-Regime oder Manipulation der Schüler*innen sehen (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & vgl. Wienecke, 2021, S. 99).
Die in der späteren Phase der DDR aufgewachsenen Lehrpersonen kannten ohnehin
kein anderes System, weswegen für sie selten der Gedanke aufkam, den eigenen
Beruf infrage zu stellen. Viele Lehrer*innen stimmen darüber ein, dass es in der DDR
sicherlich einen Mangel an Freiheit gab und viele Menschen dem Regime zum Opfer
fielen, doch für viele war das Leben in der DDR auch problemlos, was
verdeutlicht, wie die eigenen Perspektiven und die privaten Erfahrungen immer einen
extremen Einfluss auf die persönlichen Urteile von Individuen haben. Für einen
großen Teil der DDR-Lehrer*innen war der Schulalltag „normal“/„alltäglich“ und
gestaltete sich so, wie sie ihn schon immer kannten (vgl. persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
3 Die Wende am 09.11.1989
Die aus dem vorherigen Kapitel beschriebene „Normalität“ fand jedoch ein jähes
Ende, als am 09. November im Jahr 1989 die Mauer in Berlin und Deutschland fiel
und das Ende der DDR besiegelt worden war. Von einem Tag auf den anderen
änderte sich das politische sowie gesellschaftliche System in der DDR. Die
sozialistische Lehre war nicht mehr der einzig wahre Leitweg und die westliche,
kapitalistische Ideologie übernahm den Platz der einst durchweg marxistischen
Gesellschaftsordnung (vgl. Krauß, 2019, S. 123-124).
Die Wiedervereinigung wirkte sich auf viele Lebensbereiche der ehemaligen DDR-Bürger aus und grade in den Schulen, die eine Wiege der marxistischen
Ideologievermittlung waren, war aus der Sicht der BRD ein schneller Systemwandel
erforderlich. Lehrbücher wurden schnellstmöglich ausgetauscht und die Lehrpläne
wurden den der BRD angepasst. Die gesamte Verwaltung des Schulsystems wurde
angeglichen und die Polytechnischen Oberschulen und Erweiterten Oberschulen
verschwanden (vgl. Martens, 2020).
Ab diesem Tag mussten Lehrer*innen die Werte des einstigen Feindes unterrichten
und einer gegensätzlichen Ideologie folgen. Hinzu kam, dass sie mit diesem
Systemwandel schnell zurechtkommen mussten, da der Unterricht in den
ostdeutschen Schulen eine Woche nach Mauerfall wieder aufgenommen werden
sollte, nun jedoch mit westlichem Konzept (vgl. Martes, 2020).
Die Fragen, wie genau die Lehrer*innen mit den Veränderungen durch die
Maßnahmen der neuen BRD-Politik umgegangen sind, wie sich private und
berufliche Beziehungen der Lehrer*innen veränderten, soll den analytischen Kern
dieser Arbeit bilden und in den folgenden Kapiteln genau analysiert werden.
3.1 Im Lehrer*innenzimmer
Vor dem Fall der Mauer wurde in den Lehrer*innenzimmern wenig Kritik am System
geäußert. Viele Lehrer*innen wurden an den Schulen stetig von ihren Vorgesetzten
beobachteten und fiel man zu sehr auf, weil man sich nicht strikt genug an den
Lehrplan hielt, so wurde man ermahnt und schlimmstenfalls unter Beobachtung der
Stasi gestellt (vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Besonders auffällig hierbei ist, dass in der Literatur oft ein Bild
erschaffen wird, in dem Lehrer*innen dem System wie programmierte Roboter
folgen mussten. Während der Recherche zu dieser Arbeit stellte sich jedoch heraus,
dass schon Monate vor dem Fall der Mauer im Lehrer*innenzimmer über dieses
Thema gesprochen wurde und erste Vorahnungen und Gedankenspiele zum Fall der
DDR durchaus Gesprächsthema waren. Zwar hielten sich diese Gespräche noch in
einem zurückhaltenden Rahmen, doch tabu war es keineswegs, selbst wenn es
nach wie vor eine strenge Parteirichtlinie zu befolgen gab (vgl. persönliches
Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Da wurde schon früher drüber gesprochen, schon ab dem Sommer, da wurde auch
unter den Kollegen im Lehrerzimmer drüber gesprochen“ (persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Somit wurden die Geschehnisse vom 09.11.2022 in vielen Lehrer*innenzimmern zwar
weitestgehend positiv aufgenommen, es herrschte jedoch keine völlige Ekstase der
Gefühle, denn da das Thema bereits im Vorfeld vor zurückgehaltener Hand
besprochen wurde, war keine extreme Euphorie oder exzessiver Gesprächsbedarf
unter den Kollegen zu verspüren. Selbstverständlich war der Mauerfall das
Hauptgesprächsthema, doch wurde es in den Lehrer*innenzimmern eher sachlich
und mit einer abwartenden Einstellung besprochen (vgl. persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Damals war ich noch recht optimistisch, (…) aber ja natürlich macht man sich
Gedanken, ob man weiter seinen Job behält“ (persönliches Interview mit Lehrer*in,
Berlin, 2021/22).
Ein Punkt, der das Kollegium somit im Lehrer*innenzimmer sehr beschäftigte, war
der Umgang mit dem neuen Schulsystem und die Folgen die dessen Einführung
haben könnte. Dabei ist wichtig zu erwähnen, dass es viele verschiedene
Charaktertypen und verschieden „starke“ Anhänger des SED-Regimes gab. Laut einer ehemaligen DDR Lehrerin, die sich selbst als gemäßigte Anhängerin der SED identifiziert, da sie die unter anderem gelegentlich gegen den Lehrplan verstoßen hat, war es nun deutlich entspannter zur Arbeit zu
gehen, da sie nicht mehr unter Beobachtung der Vorgesetzten stand und ihre
eigenen Ideen nun offiziell in den Unterricht einfließen lassen konnte. Sie ist im vergleich zu den parteitreuen Kolleg*innen mit dem Systemwandel gelassener umgegangen und hat es
relativ schnell geschafft, sich an das neue System anzupassen (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Laut einer ehemaligen Lehrerin aus der DDR fühlte sich für viele Lehrer*innen, die gemäßigte Anhänger des DDR-Systems waren, die Wende wie Art Befreiung am Arbeitsplatz an.
Zwar konnte das von Lehrer*innen in der DDR Karrieretechnisch und auf familiärer Ebene „gut“
gewesen sein, wodurch es keinen Anlass zu deutlicher Abneigung gegenüber dem
DDR-Regime geben könnte, doch war die neu gewonnene Sorglosigkeit am
Arbeitsplatz ein Faktor, der sich spürbar positiv auf das Leben einiger Lehr*innen ausgewirkt
hat. Das andauernde Gefühl von Beobachtung zehrte an den Nerven vieler
Lehrer*innen der DDR und sorgte dafür, dass sie ständig unter Anspannung und Stress
standen. Durch die Einschüchterungsmaßnahmen der Stasi, wie z. B. mit Drohungen
den Arbeitsplatz oder die Zulassung als Lehrer*in zu verlieren, wurden viele Lehrer*innen,
die von der Parteilinie abwichen, wieder folgsam gemacht. Diese Umstände waren
zwar nicht der Alltag für alle Lehrer*innen, doch laut der Recherchen zu dieser Arbeit
kam es regelmäßig an Schulen zu Ermahnungen von Seiten Vorgesetzter mit enger
Bindung zur SED (vgl. Wienecke, 2021, S. 218 & vgl. persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Als Anfänger, hab viele Sachen gemacht, die der Schulleitung nicht so gefallen
haben, aber eigentlich Sachen für Kinder. Ja und was ich nicht wusste, einige der
Kollegen bzw. auch der Schulleiter bei der Stasi waren, die Sache war die, eigentlich
war ich nicht schlecht, natürlich hat man als Anfänger so paar kleine Sachen, hab
meine Klasse auch in Griff bekommen, hab mit den den Raum gemalert, dann haben
die halt vorn so Bäume ran gemalt, das war ein No-Go!“ (persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Da wurde ich gerügt. Das ging so weit am Ende, wir hatten zu DDR Zeiten zwei
Jahre Absolventenzeit und der Schulleiter bzw. Direktor hat zu mir damals gesagt, wir
haben so viel im Russischunterricht erreicht, grade in Klasse 5 und 6, da habe ich ja
unterrichtet, und trotzdem wurde mir meine Absolventen-Zeit nicht anerkannt, auch
aufgrund verschiedener anderer Sachen. Zum Beispiel wusste ich nicht, dass auch
Eltern aktiv bei dem Verein waren. Ja und dann sollte ich an eine andere
Schule“ (persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Dazu, wie sehr sich der eigene Beruf veränderte, trägt selbstverständlich auch bei,
welches Fach man unterrichtete, da Mathematik und Physik beispielsweise keinen
ideologischen Hintergrund haben bis auf die Textaufgaben, die oft im sozialistischen
Kontext formuliert wurden. Lehrer*innen, die Ideologie belastete Fächer
unterrichteten, mussten zwar an ihren Unterrichtsinhalten Arbeiten, doch konnte der
größte Teil dieser Lehrkräfte sich auch dem neuen System anpassen. Lediglich die
Russisch-Lehrer*innen mussten fast komplett auf ihr erlerntes Fach verzichten.
Englisch wurde zur 1. Fremdsprache, worauf Französisch als 2. Fremdsprache
folgte. Russisch wurde noch in Arbeitsgemeinschaften angeboten, doch das
Interesse an den Arbeitsgruppen verschwand auch schnell. Schon in den frühen
90er Jahren starb das Fach Russisch in den deutschen Schulen fast komplett aus
(vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Aber was eben die Veränderung war, dass es eben kein russisch mehr gab. Das
habe ich im ersten Jahr noch als Arbeitsgemeinschaft angeboten, aber das hat nach
einer Weile auch keinen mehr interessiert“ (persönliches Interview mit Lehrer*in,
Berlin, 2021/22).
Noch intensiver und mit mehr Sorge wurde sich über die Sicherheit des eigenen
Jobs ausgetauscht. In vielen Fällen kam es dazu, dass Lehrer*innen ihre Stelle
wechseln mussten. Die Direktoren wurden ausgetauscht und neue Schulleiter kamen
an die Schulen, welche das Kollegium oft veränderten. Zudem wurde das
Schulsystem angepasst, so wurden beispielsweise einstige Grundschulen zu
Realschulen und die Grundschul- und Realschullehrer*innen waren gezwungen sich
eine neue Stelle zu suchen (vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin,
2021/22).
3.2 Im Klassenzimmer
Die Ereignisse in Berlin im November 1989 waren auch unter den Schüler*innen das
vorherrschende Gesprächsthema. Wie haben die Lehrer*innen den Systemwandel
mit den Schüler*innen kommuniziert? In der Literatur finden sich oft
Beschreibungen, wie Lehrer*innen vor der Wende als auch nach der Wende die
Ereignisse ungern thematisiert haben und eher dazu neigten, mit dem Unterricht
fortzufahren als wäre nichts passiert. Dieser Annahme ist jedoch nach der
Recherche zu dieser Arbeit zumindest teilweise zu wiedersprechen. Durchaus
stellten sich manche die Lehrer*innen den Fragen ihrer Schüler*innen und
versuchten, mit ihnen offen über die Geschehnisse und Veränderungen an der
Schule, in Deutschland und auf der ganzen Welt zu reden, doch stimmt es auch,
dass viele Lehrer*innen eine abwartende Haltung einnahmen und versuchten so
lange wie möglich mit „den altbewährten Mitteln“ (Wienecke, 2021, S.138) weiter zu
Unterrichten. Diese Einstellung wurde bei vielen Schüler*innen negativ
aufgenommen, da es als Festhalten am alten System interpretiert wurde (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & Wienecke, 2021, S.138-39).
Viele Schüler*innen hatten den Wandel herbeigesehnt und waren aufgeregt, was die
Zukunft bringt. Sie erwarteten von den Lehrer*innen sich schnellstmöglich mit dem
neuen System vertraut zu machen, da sie als neugierige Kindern und Jugendlichen
gespannt auf den neuen und aktualisierten Unterrichtsstoff waren. Auch bei der
Recherche zu diesem Projekt ergab sich, dass Lehrer*innen, die sich schwertaten
den neuen Lehrplan zu adaptieren oft Kritik von den Kindern erhielten, da diese
durch die neu erlangten Freiheiten und die Neugierde auf das neue System diese
Lehrer*innen oft als DDR-Fanatiker*innen abstempelten, die den neu errungenen
Chancen keinen Raum geben wollen. Dass die Lehrer*inne jedoch als erwachsene
und bereits ausgebildete DDR-Bürger meist deutlich besorgter als ihre Schüler*innen
waren, da sie sich um ihre Zukunft sorgten und plötzlich eine neue Rolle einnehmen
mussten, war den meisten Schüler*innen nicht bewusst (vgl. persönliches Interview
mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & vgl. Umgewendet – Schule nach dem Mauerfall).
„Man hat aus seiner eigenen Wende keine Öffentlichkeit gemacht, man musste sich
ja selber erstmal klar werden, worin besteht denn das, wo ich mich verändern
muss?“ (Umgewendet – Schule nach dem Mauerfall, 2021, 29:46 min).
Ein gutes Beispiel für Lehrer*innen, die sich schnell an die Veränderungen anpassen
mussten, sind die Lehrkräfte, die Russisch unterrichteten nun die Aufgabe
bekommen haben Englisch zu lehren. Die Einarbeitung in eine komplett neue
Sprache erfordert zwar einiges an Aufwand, doch wurde dies weitestgehend auch
als ein Teil der neuen Aufgabe akzeptiert und viele Lehrer*innen arbeiteten sich
somit guten Willens in das neue Fach ein, um weiterhin im Bereich der Sprachen
lehren zu können und ihren Schüler*innen einen angemessenen Unterricht zu liefern.
„Russisch wurde kaum noch gebraucht, so hast du dann englisch gemacht, hast
dich dann da eingearbeitet“ (persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
3.3 Privat
Das Thema der Wende wurde in den privaten Haushalten intensiv diskutiert. Hier
waren die Lehrkräfte „sicher“ und konnten ihre eigene Meinung kundtun, ohne ein
Risiko eingehen zu müssen auffällig zu werden. Die Menschen spürten im Sommer
1989 bereits, dass eine Veränderung kommen wird, in welchem Ausmaß diese aber
stattfinden wird, war keinem wirklich bewusst.
Der Wandel der Situation am Arbeitsplatz brachte für viele Lehrer*innen auch eine
Neugestaltung der privaten Lebensverhältnisse mit sich. Das Ausmaß dieser
Neuerungen variierten stark und war von verschiedenen Faktoren, wie dem eigenen
Fachbereich in dem man lehrt, dem Familienstand und von den persönlichen
Ambitionen (Karriere) abhängig.
Für viele Lehrer*innen ergab sich die Situation, dass sie ihre Schule wechseln
mussten, da durch die Umwandlung des Schulsystems Lehrer*innen nun speziell zu
Grundschullehrer*innen wurden und daher nicht mehr an ihrer alten Schulen bleiben
konnten, da diese nun in Oberschulen umgewandelt wurden. Meine Recherche
ergab, dass viele Lehrkräfte, die von dieser Situation betroffen waren, eine
anstrengende Zeit erlebten, da es viele Bewerber an den neuen Grundschulen gab
und die Konkurrenz um begehrte Stellen groß war. Da die neuen Stellen oftmals
nicht in der nahen Umgebung lagen, waren viele Lehr*innen und ihre Familien
gezwungen umzuziehen. Viele Lehrkräfte verließen das ehemalige Ost-Berlin und
fanden Stellen im westlichen Teil der Stadt. Andere wechselt sogar das Bundesland,
um weiter ihrer Tätigkeit als Lehrer*in nachgehen zu können (vgl. persönliches
Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„Ja, die Schule musste ich ja wechseln, weil die Schule, die ich verlassen hatte, gab
es dann nicht mehr so. Das war dann eine Realschule und ich bin dann an die
Grundschule gegangen und hab dann Schüler von der vierten bis zur sechsten
Klasse unterrichtet, also eigentlich diese Mittelstufe“ (persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Dass Lehrer*innen mit den neuen Stellen die sie belegten nach einiger Zeit
unzufrieden waren, beispielsweise aufgrund einer schwierigen Integrierung in das
neue Kollegium, kam es auch regelmäßig zu mehreren Standort wechseln für die
Familien. Gründe für einen Umzug mussten aber nicht nur aus eher negativen
Folgen entstehen, denn auch Karrierechancen konnten ausschlaggebend sein, den
Wohnort zu wechseln, da man beispielsweise eine Beförderung zum/zur
Konrektor*in oder Rektor*in erhalten haben konnte.
„Also ich bin dann 1995 verbeamtet worden, wollte mich eigentlich nicht verbeamten
lassen, da war aber meine Mutti wieder, die gesagt hat: Mach das, das ist sicherer.
(…) Ich habe alle Prüfungen gemacht, habe aber lange gebraucht ehe ich das
eingereicht habe und da hat sie mich eben ein bisschen getreten und gesagt: Mach
mal. Zwischenzeitlich war ich dann noch zweiter Konrektor an der Schule und ich
war immer Klassenlehrer“ (persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
“(…) einen Fall habe ich erlebt, (…) ich hatte eine Kollegin, die hat sich oft mit der
neuen Schulleitung angelegt, die hat gewechselt im Sommer 91, die hat oft ihre
Meinung gesagt und ist dann schlussendlich gewechselt“ (persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Des Weiteren beeinflusste der Familienstand selbstverständlich die privaten
Entscheidungen sehr. Lehrer*innen, die bereits eine Familie gegründet hatten, also
einen Partner*in und sogar Kinder hatten, konnten nicht spontan umziehen und neue
Stellen annehmen, wie es allein lebende oder sehr junge Lehrer*innen machen
konnten. Daher gab es auch den Fall, dass sich Lehrer*innen für Umschulungen
bereit erklärten, um so beispielsweise als Grundschullehrer*innen an Oberschulen
lehren zu können, obwohl sie vorher nicht dafür qualifiziert gewesen wären (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
„(…) Ja richtig. Eigentlich dachte ich es wird sowieso irgendwie weiter gehen, zumal
ich ja in der Zeit, ab Februar im Mutterschutz war, war ja dann ein Jahr zu Hause mit
meiner Tochter und hab dann das Angebot bekommen an diese Grundschule zu
gehen, 91 dann. Und da war für mich halt neu, dass ich fachfremde Fächer
unterrichten musste. Mein Mann hat aber gesagt: Das finde ich gut, dann wirst du
kein Fachidiot. Nein. Damit konnte ich mich sehr gut anfreunden. Das war kein
großes Problem, das hat Spaß gemacht, weil es was Neues war“ (persönliches
Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Die Wende ist im allgemeinen Volksmund als eine Zeit des Umbruches beschrieben
und wird auch von vielen Lehrkräften aus dieser Zeit als eine solche
wahrgenommen. Für manche Lehrkräfte gab viele private Veränderungen und es
wurden grundlegende Lebensentscheidungen getroffen: Wo werden die eigenen
Kinder groß?, Wo lässt man sich dauerhaft nieder?, Fühlt man sich als Familie bereit
große Veränderungen durchzustehen?
Im Gegensatz dazu gibt es auch viele Beispiele von Lehrern*innen, die an ihrer Stelle
weiter arbeiten konnten und die Wende 1989 keinen enormen Einfluss auf das
Privatleben hatte, doch auch diese nahmen die Zeit, dadurch dass sich fast alle
Kollegien veränderten, als eine ereignisreiche Phase war, die von Wandel und
Veränderung geprägt war (vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Lehrer*innen mussten somit den Wandel im Jahr 1989 auf drei verschiedenen
Ebenen bewältigen. Die Situation am Arbeitsplatz veränderte sich für manche
dramatisch und das Arbeitsklima an den Schulen wurde für ausgewählte
Lehrer*innen plötzlich deutlich angenehmer, da sie nun nicht mehr darauf achten
mussten, von der Stasi überwacht, oder von Kollegen denunziert zu werden (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22). Doch mittlerweile nach 32
Jahren Mauerfall, wie schätzen die ehemaligen DDR-Lehrer*innen das Schulsystem
der DDR heute ein? Diese Frage soll im folgenden Kapitel erörtert werden.
4 Einschätzung des Schulsystems
Das ehemalige DDR-Schulsystem wurde gefühlt unmittelbar nach dem Mauerfall
ausradiert und aus der Welt geschafft. Die Strukturen der DDR sollten so schnell wie
möglich von den des westlichen Systems übernommen werden. Doch seit längerem
werden Stimmen laut, die kritisieren, dass das DDR-Schulsystem ohne weitere
Überlegungen entfernt wurde. Besonders unter den ehemaligen Lehrer*innen der
DDR herrscht oft Einigkeit darüber, dass das DDR-Schulsystem mehr Beachtung
verdient gehabt hätte. Ein Gefühl der fehlenden Wertschätzung gegenüber der
Leistungen von DDR-Lehrer*innen aus Richtung der westdeutschen Politik war
durchaus gegeben, doch im Gegensatz dazu wurde Wertschätzung der
westdeutschen Kolleg*innen häufig kommuniziert, da sich diese oft beeindruckt von
dem Leistungsstand der ostdeutschen Schüler*innen und Lehrer*innen zeigten (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & Krauß, 2019, S. 125-128).
Dieses hohe Leistungsniveau ist eindeutig auf die Strukturen des DDR-Schulsystems zurückzuführen. Die Polytechnischen Oberschulen waren den
heutigen Schulen in vielerlei Dingen voraus. Die Schüler*innen wurde deutlich
intensiver in Naturwissenschaften ausgebildet und das bereits ab einem jungen
Alter. Klassen blieben für mindestens acht Jahre eine Gemeinschaft, was die
Entstehung von neuen Dynamiken innerhalb der Klassengemeinschaft verhindert,
mit denen Schüler*innen nicht zurechtkommen könnten. Des Weiteren sorgten die in
der DDR einheitlichen und verbindlichen Lehrpläne für eine einheitliche Struktur im
Unterricht und Vergleichbarkeit der Schüler*innen, es gab somit eine deutliche
Steigerung des Wettbewerbs an den Schulen, was laut Pisa Studien nachweislich zu
besseren Ergebnissen und höheren Leistungen der Schüler*innen führt. Besonders
interessant hierbei ist für Lehrer*innen natürlich, dass ein Positionswechsel beruflich
deutlich einfacher zu gestalten war. Das Leistungsniveau und der Bildungsstand
waren überall in der DDR gleich, sodass eine Lehrkraft, die die Schule wechselte,
direkt an dem Punkt weiter machen konnte, an dem er aufgehört hatte. (vgl.
persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & Michalsky, 2002).
Die Kritik an den Lehrplänen ist die häufigste, die von ehemaligen den DDR-Lehrer*innen kommuniziert wird. Heutzutage ist es aufwändiger, wenn man alleine
von Berlin nach Brandenburg wechselt, da sich der Stand des Lehrplans deutlich
unterscheidet. Mit einem einheitlichen System wie in der DDR wäre das kein
Problem (Michalsky, 2002).
„Ja. Aber das war auf vielen Gebieten so. Es war nicht alles gut, aber manche
Sachen, der Freie Unterricht, ist ja gut, aber ich bin ein Vertreter der Mischung, das
beste von beidem, beides! Und es gibt einige Sachen, z. B. die Klassenstärken, das
wird nicht besser je weiter wir uns von der Wende entfernen. Ich hatte eine Klasse
von maximal 20 Schülern, sodass man wirklich den Blick auf alle haben konnte und
man sich bei Kindern, die Probleme hatten, sich auch mal um die kümmern konnte.
Alles, was über 20 ist, zählt doppelt. Man könnte, wenn man mehr investieren könnte
im Westen, auch in diesem System mehr Sachen erreichen. Was hätten die sich
abgucken können? Dass es kein Problem sein sollte, dass die Kinder in der ersten
Klasse Schreibschrift lernen und bis 100 rechen können” (persönliches Interview mit
Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
Es wird deutlich, dass nach der Wende für viele DDR-Lehrer*innen ein spürbarer
Leistungsrückgang der Schüler*innen erkennbar war, der bis zum heutigen Tag
anhält und für die DDR-Lehrer*innen zunächst ungewöhnlich war, da diese an das
höhere Leistungsniveau im Osten gewöhnt waren. Die Schüler*innen werden laut
Beobachtungen mancher Lehrer*innen immer weniger leistungsfähig und das
Bildungsniveau nimmt zunehmend ab. Den Grund sehen die Lehrkräfte in den
Entwicklungen der modernen Welt, wie z. B. der Zunahme vom Konsum digitaler
Medien sowie der geringen Anzahl an Förderprogrammen für Schüler*innen.
Lehrer*innen aus der ehemaligen DDR stimmen über ein, dass eine Fusion des
West- und Ostsystems zu einer effizienteren Variante des heutigen Schulsystems
geführt hätte. Gestützt wird diese These beispielsweise durch Ergebnisse der Pisa-Studie: „Wäre 1990 im Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik und der DDR
vereinbart worden, dass überall im wiedervereinigten Deutschland das DDR-Schulsystem gelten sollte, hätte Deutschland bei der Pisa-Studie 2001 einen Platz
auf dem Siegertreppchen bekommen (Krauß, 2019, S. 124). Finnlands Schulsystem
hat einige Parallelen zum DDR-System und schneidet jährlich sehr gut bei der Studie
ab (vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22 & vgl. Michalsky, 2002).
Vermissen tun viele Lehrer*innen das DDR-System dennoch nicht, da es natürlich
auch seine System verherrlichenden Seiten hatte. Zudem ist es für viele Lehrkräfte
auch schon zu lange her, als dass sie sich noch Gedanken über das bereits seit über
30 Jahren abgeschaffte System machen würden. Die Lehrkräfte haben sich schon
seit langer Zeit an das aktuelle Schulsystem gewöhnt und es ist zum Alltag und zur
Normalität geworden (vgl. persönliches Interview mit Lehrer*in, Berlin, 2021/22).
5 Fazit
Ausgehend von der Fragestellung dieser Arbeit wird deutlich, dass sich Lehrer*innen
in verschiedenen Bereichen auf den Systemwandel nach der Wende 1989 einstellen
mussten. Dabei war zunächst wichtig zu erforschen, inwieweit das ehemalige DDR-System Einfluss auf das Lehrpersonal hatte und wie mit dem Auftrag der
sozialistischen Ideologievermittlung umgegangen wurde. Des Weiteren war zu
klären, welchen Einfluss der Systemwandel letztendlich auf das Leben der
Lehrer*innen genommen hat und welche Umgestaltungen sie erlebten. Durch die
Recherche zu dieser Arbeit wurde deutlich, dass Lehrer*innen nicht wie folgsame,
stumme Bürger den sozialistischen Lehrplänen folgten und ihre eigenen Gedanken
zurückhielten. Viel mehr waren einige Lehrer*innen bereit, ihre eigenen Ideen in den
Unterricht einfließen zu lassen und den Lehrplan nach eigenen Vorstellungen zu
gestalten. Den Lehrkräften war zum größten Teil nicht aktiv bewusst, dass sie den
eigentlichen „Auftrag“ hatten, gute und vor allem folgsame sozialistische Bürger zu
erziehen. Jede*r Interviewpartner*in reagierte abwehrend auf die These DDR-Lehrer*innen seien Parteiwerkzeuge gewesen, was verdeutlicht, dass Lehrer*innen
sich unabhängig von SED-Vorschriften identifizieren und ihren Lehrauftrag zum
Wohle der Schüler*innen erfüllten und nicht zum Wohle der Partei (vgl. Wienecke,
2021, S. 215-216).
Daraus lässt sich auch ableiten, dass die Idee der Ideologievermittlung auf zwei
Ebenen liegt, die in der Praxis wenig miteinander korrespondierten. Zwar war das
Leitbild von staatlicher offizieller Seite durch Richtlinien vorgegeben, doch wurde es
von den Lehrer*innen nicht mit blinder sozialistischer Überzeugung umgesetzt,
sondern sogar teilweise auf ihre eigenen Ansprüche individualisiert.
Die Auswirkungen auf das persönliche Leben der Lehrer*innen waren besonders im
Kollegium und im privaten Bereich, abseits der Schule, spürbar. Lehrer*innen, die
dem System schon immer kritisch gegenüberstanden, konnten sich nun frei von
potenziellen Risiken äußern und ihren Unterrichtsinhalt so gestalten, wie sie es für
angemessen hielten. Diese Lehrkräfte hatten es durch ihre persönliche Motivation
dem alten System den Rücken zu kehren leichter, sich an die neuen Strukturen
anzupassen, als Parteilinien treue Lehrer*innen, da diese ihren Platz in dem neuen
System erst selber finden mussten, um dann die neue Ideologie an die eigenen
Schüler*innen weitergeben zu können.
Im privaten Bereich veränderte sich vieles für die Lehrer*innen besonders durch die
Umstrukturierung der Schulen in Grundschulen und Oberschulen und durch die
Veränderungen in der Schulleitung. Diese Vorgänge beeinflussten die
Lebensverhältnisse der Lehrer*innen sehr stark, da durch diese Maßnahmen
Lehrkräfte plötzlich vor viele wichtige Entscheidungen gestellt wurden, die großen
Einfluss auf das Privatleben nahmen. So waren z.B. Wohnort und Familienplanung
extrem von den Geschehnissen rund um den Mauerfall betroffen und viele
Lehrer*innen sind bis zum heutigen Tag an den Schulen tätig, an denen sie sich nach
der Wende beworben haben und nach wie vor wohnhaft an den Orten, an die sie
nach der Wende gezogen sind. Ohne den Mauerfall wäre es möglicherweise nie zu
diesen Umstrukturierungen des eigenen Lebens gekommen.
Lehrer*innen empfanden die Zeit nach dem Mauerfall als eine Zeit des Umbruchs,
jedoch zum großen Teil nicht als Belastung. Zwar gab es durchaus Fächer, die
komplett abgeschafft wurden, wie z.B. Russisch, doch war es laut der Sekundärquellen und Interviewpartnern fast allen DDR Lehrer*innen
möglich sich an die neuen Gegebenheiten anzupassen, selbst wenn dies von
Lehrer*in zu Lehrer*in unterschiedlich lange gedauert hat, da einerseits der Kern des
Lehrstoffes meist der gleiche blieb und andererseits Lehrer*innen, wie bereits
erwähnt, keine blinden Werkzeuge der SED waren, sondern teilweise selbst im
Voraus zum Mauerfall bereits Einfluss auf ihre Unterrichtsgestaltung nahmen.
Deutlich wird auch, dass die meisten Lehrer*innen das DDR-System nicht vermissen
und wenn sich die DDR-Lehrer*innen dazu äußern, dann meistens nur positiv
gegenüber dem höheren Leistungsstand ihrer Schüler*innen. Daran wird besonders
deutlich, dass den Lehrer*innen letztendlich keine Ideologie oder Wertevermittlung
wichtig war, sondern für sie stets das Wohl und die Bildung der eigenen
Schüler*innen im Mittelpunkt stand.
6 Methode
Um zu den Ergebnissen dieser Arbeit zu gelangen wurden fünf Interviews mit ehemaligen Lehrer*innen aus der DDR geführt. Das Interesse zu diesem Thema kam auf, da in meinem persönlichen Umfeld viele Freunde Eltern haben, die als Lehrer tätig sind und zu dem auch viele Freunde ein Lehramtsstudium begonnen haben. Während der Recherche zu einer Hausarbeit, die sich mit der Arbeit von Archäologen im Nationalsozialismus auseinandersetzt, kam mir die Idee zu hinterfragen, wie es Lehrer*innen ergangen sein muss, einen drastischen Systemwechsel, ähnlich wie 1933, zu durchleben. Da die Wende noch nicht so weit zurück liegt, wählte ich dieses Ereignis das Leitthema für mein Projekt. Da ich neben der Sekundärliteratur auch Interviewpartner brauchte fragte ich zuerst in meinem privaten Umfeld, ob jemand Kontakt zu einem oder einer ehemaligen DDR-Lehrer*in hat. Als zweiten Schritt, suchte ich mir die Kontaktdaten von zahlreichen Berliner Gymnasien heraus, die einst im DDR Gebiet lagen, schickte jeder dieser Schulen eine E-mail mit meinem Anliegen und fragte, ob es möglich wäre, mich an aktive oder bereits pensionierte Lehrer*innen zu vermitteln, die einst in der DDR tätig waren.
Erfolgreich war ich mit beiden Herangehensweisen, auch wenn es einige Zeit gekostet hat die Interviewpartner zu finden und passende Termine auszumachen. Nachdem alle Interviews erledigt waren, verglich ich die Ergebnisse, suchte nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den Aussagen der Interviewpartner, aber auch nach Unterschieden im Vergleich zur Literatur. Die Ergebnisse fasste ich zusammen und vollendete somit meine Hausarbeit.