Wir schreiben das Jahr 1983. Ganz Osteuropa ist vom Kommunismus besetzt. Ganz Osteuropa? Ja, auch die Tschechoslowakei.
Alle Menschen, die nicht mit dem Kommunismus konformierten, waren bedroht. Davon waren besonders Christen betroffen. Die Bedrohung ging nicht immer über direkte Gesetze. In der Tschechoslowakei existierte theoretisch Glaubensfreiheit, doch in der Praxis sah das anders aus, denn jeder Mensch hatte eine Akte, die in die Schule oder zum Arbeitgeber geschickt wurde und darauf war vermerkt, wenn jemand Christ war. Die Machthabenden nutzten bereits existierende Gesetze, um die christliche Bevölkerung zu verfolgen. Wenn ein Mensch an Gott glaubte, wurde er als verdreht angesehen und wenn jemand nicht im Kommunistischen Jugendverband oder der Kommunistischen Partei war, dann war diese Person automatisch gegen den Kommunismus und damit ein Staatsfeind.
Besonders betroffen war die katholische Kirche, die nicht leicht unter Kontrolle zu bringen war, denn das Oberhaupt der katholischen Kirche ist der Papst, und der saß im Vatikan außerhalb des kommunistischen Einflusses.[1]
[1] Die Kirchen in der Tschechoslowakei in der Zeit des Umbruches, S.108.
Aufgrund dieser Zustände war der Fokus der Forschung immer auf die katholische Kirche gerichtet. Deshalb habe ich zwei Schwestern aus einer freikirchlichen Familie interviewt, die zu verschiedenen Zeitpunkten auf verschiedenen Wegen geflohen sind.
Historischer Kontext
In den Gesprächen berichteten die Befragten, dass die Grundannahme war, dass jeder, der an Gott glaubte, gegen die Politik und gegen den Kommunismus war. Dazu kam, dass jeder, der nicht im Kommunistischen Jugendverband oder der Kommunistische Partei war, ein Feind des Staates war. Damit wurden automatisch selbst Kinder zu Staatsfeinden erklärt. Dabei wurde über jedes Kind eine Akte geführt, die in der jeweiligen Schule den Lehrern vorlag. Darin war ebenfalls aufgeschrieben, ob das Kind gläubig war.
Religiöse Freiheit ist der Grundpfeiler von Gewissensfreiheit. Der Glaube an Transzendenz liegt der Unterstützung für jedwede politische, soziale oder ökonomischen Ordnung zugrunde. Regime, die Menschen den Zugang versperren, dem tiefgründigen und mächtigen spirituellen Ruf zu antworten, stören jegliche individuelle Entfaltung. Deshalb sind totalitäre Systeme, die die gesamte Person in Anspruch nehmen darauf ausgerichtet, Religion zu zerstören oder einzubinden.[1]
[1] Vgl. https://www.cato.org/commentary/religious-persecution-around-globe-guide#.
Eines dieser Systeme war das Regime der Sowjetunion, dessen Politik und Verfolgung von Religion und religiösen Menschen auch die umliegenden Staaten beeinflusste. Die offizielle Staatsüberzeugung war, dass es keinen Gott gibt und wer an Gott glaubte, folglich gegen den Kommunismus war.
Familie
Die Familie, von der wir nun erfahren werden, bestand aus dem Vater, einem Pastor, der Mutter, drei Töchtern und einem Sohn. Sie wohnten im Nordosten der Tschechoslowakei und besuchten regelmäßig den Gottesdienst einer Freikirche.
Alle drei Töchter flohen nach Westdeutschland in den 1980er Jahren. Da sie separat und zu verschiedenen Zeiten mit verschiedenen Methoden geflohen waren, fand ich ihre Geschichten besonders faszinierend. Die mittlere Tochter stand aufgrund von persönlichen Gründen nicht für ein Interview zur Verfügung, daher sind alle Informationen zu ihrer Flucht aus zweiter Hand von ihren Schwestern überliefert.
Als die zwei ältesten Kinder noch sehr jung waren, im Jahr 1968, entschieden sich die Eltern, in die Schweiz zu fliehen, doch der Vater war noch nicht bereit, seine eigenen Eltern zu verlassen. Die Familie verließ das gepackte Auto und blieb zu Hause. Doch die Eltern träumten noch immer von einem besseren Leben und haben diese Hoffnung auf mehr Chancen an ihre Kinder weitergegeben. Die im Folgenden genannten Befragten erzählen von Erlebnissen, die 40 Jahre her sind, aber die Einzelheiten scheinen sich den Schwestern sehr eingeprägt zu haben und sie konnten mir detaillierte Berichte liefern.
Die Töchter wurden anonymisiert und tragen daher nicht ihre echten Namen.
Vorstellung Sofie
Sofie war das älteste von insgesamt vier Kindern der Familie in der Tschechoslowakei. Als Tochter eines Pastors waren ihr viele Bildungswege versperrt. Sie wollte auf ein Kunstgymnasium gehen, was ihr wegen ihres religiösen Hintergrundes versperrt blieb. Obwohl sie die Aufnahmeprüfung bestanden hatte, war es ihr nicht erlaubt das Kunstgymnasium zu besuchen.
Jeder Schüler in der Tschechoslowakei hatte eine Geheimakte mit Informationen, wobei auch aufgelistet war, wenn ein Schüler gläubig war und aus einer gläubigen Familie stammte. Diese Akte wurde bei jedem Schulwechsel hinterhergeschickt. Sofie bewarb sich schließlich an einem Fachgymnasium mit Schwerpunkt Keramik, wo sie aufgenommen wurde und zur Schule gehen konnte. Kurz vor dem Abitur wurden ihre Eltern informiert, dass diese ihre Tochter von der Schule abholen sollten, da sie wegen ihrer Abwesenheit an Samstagen keinen Abschluss erhalten würde. Diese Abwesenheiten sind darin begründet, dass die Freikirche den Samstag als Ruhetag begeht, und waren durch Sofies Eltern entschuldigt. Sie schrieben an den Direktor der Schule, dass er doch sicher nicht die Zukunft einer Schülerin gefährden wolle und auch Sofies Klasse wandte sich an den Direktor, sodass sie ihren Abschluss machen durfte. Nach dem Schulabschluss gab es für Sofie keine Möglichkeit an eine Kunst- oder Musikuniversität zu gehen.
Sofie heiratete kurz nach ihrem Abitur im Alter von 19 Jahren einen Mann, der Verwandte in Deutschland hatte und gemeinsam sahen sie die Flucht nach Deutschland als eine Möglichkeit für Freiheit. Im Sommer 1983 reiste das Ehepaar nach Jugoslawien in angebliche Flitterwochen, wo es über die Grenze bei Maribor zu Fuß nach Wien in Österreich lief.
Und dann sind wir bei Maribor über die grüne Grenze, da ist Gebirge und wir sind dann über die grüne Grenze sind wir abgehauen, illegal nach Österreich. Und also da, wo wir dann über die Grenze gegangen sind. Wir haben sogar auch von weitem die Soldaten gesehen, die Grenzposten und da wurden auch Leute erschossen an der Stelle Woche dadrauf.
In Österreich gab das Paar vor, Touristen zu sein. Mithilfe von Bekannten des Ehemanns reisten sie zur grünen Grenze nach Deutschland. Sie kamen in Karlsruhe an, wo ihr damaliger Ehemann Verwandte hatte, und sie lebten in einem Asylheim. Das Paar wurde von US-Personal befragt, das sehr gut informiert war und sogar die Adresse von Sofies Eltern kannte. Sie erhielten einen 8-monatigen Deutschkurs vom Staat. Das Paar zog nach Köln und ließen sich scheiden. Dort traf Sofie ihren späteren Ehemann, der Pastor der Freikirche wurde.
Vorstellung Jana
Über Janas Flucht kann ich nur Weniges aus Sicht ihrer Schwestern berichten. Jana floh in der Zeit zwischen 1983, das Jahr in dem Sofie geflohen ist, und 1988, das Jahr in dem Anna geflohen ist, nach Westdeutschland. Die Eltern und Jana durften die Tschechoslowakei verlassen für einen Besuch zu Sofie. Es war bereits geplant, dass Jana bei ihrer Schwester in Westdeutschland bleiben wird und sie hatte einen Brief für die Eltern geschrieben, sodass diese glaubhaft behaupten konnten, von dem Plan nichts gewusst zu haben.
Vorstellung Anna
Anna sagte, nachdem ihre älteste Schwester nach Westdeutschland geflüchtet war, sahen ihre Mitschüler sie als cool an. Die Fragen ihrer Mitschüler beschränkten sich auf westliche Modekataloge. Nach der Schule begann Anna im Alter von 14 eine Ausbildung als Schriftsetzerin, mit 17 begann sie zu arbeiten.
Anna wurde nach Janas Flucht offiziell vorgeladen zu einem Verhör im Gefängnis, denn wenn sie von der Flucht gewusst hätte, wäre sie Mittäterin einer Straftat gewesen. Anna selbst hatte tatsächlich nichts gewusst. Sie berichtete, dass es in dem Jahr, 1988, schon in die Richtung des Falls der Sowjetunion ging und das Verhalten der Behörden nicht so brutal war. Die Behörden hätten gemerkt, dass sie noch ein Kind war und tatsächlich nicht informiert gewesen war.
Ich habe panische Angst gehabt. Die haben an den Grenzen immer sehr, sehr kontrolliert. Und ich habe immer noch geglaubt, dass mich jemand verpetzt hatte, dass das jemand rausgefunden hat und dass die mich an der Grenze rausziehen aus dem Auto und verhaften.
Um nach Westdeutschland auszureisen, brauchte Anna ein Visum, das nicht leicht zu bekommen war. Nachdem sie es jahrelang nicht erhalten konnte, erhielt sie eines für die Hochzeit ihrer Schwester Jana. Selbst ihren festen Freund ließ Anna im Dunkeln über ihre Pläne, da sie wusste er würde eine Flucht nicht gutheißen. Als die mittlere Schwester Jana heiratete, war es einem Teil der Familie erlaubt, nach Westdeutschland auszureisen. Der jüngste Sohn musste zurückbleiben als Versicherung, dass die Familie zurückkehrte. Die Reise erfolgte im Auto mit ihren Eltern. Anna unterrichtete lediglich einen engen Freund, ihren Bruder und ihre Schwester Sofie von ihrem Plan, nicht zurückzukehren. Sie sagte, sie hatte bis zur letzten Sekunde panische Angst. Anna hatte befürchtet, dass jemand sie verraten hatte und die Grenzwachen sie aus dem Auto ziehen und verhaften würden. Sie vermutet, dass sie durch die Grenze gelassen wurde, weil der Zerfall der Sowjetunion bereits absehbar war und die Regeln deshalb nicht mehr allzu streng durchgesetzt worden waren.
Anna schrieb einen Brief an ihre Eltern, damit die Behörden nachweisen konnten, dass sie die Flucht nicht unterstützt hatten und auch nichts davon wussten.
“Da hab’ ich erstmal den Boden geküsst. Erste Raststätte, wo wir angehalten haben.”
Fazit
Da Sofie als erste der Schwestern floh, bildete sie eine Art Ankerpunkt für ihre jüngeren Schwestern. Janas Flucht mit dem vorgeschobenen Grund, Sofie zu besuchen, wäre ohne Sofie nicht möglich gewesen. Infolgedessen konnte Anna zu Janas Hochzeit nach Westdeutschland ausreisen und auch dortbleiben. Ohne Sofia wäre es den zwei jüngeren Schwestern sehr viel schwerer gefallen, nach Westdeutschland zu reisen, denn ihnen hätte ein Vorwand gefehlt, die Grenze überqueren zu dürfen.
In Deutschland angekommen ging es den Schwestern viel besser, denn sie waren in ihrer Job- und Ausbildungswahl nicht aus religiösen Gründen eingeschränkt. Sofia berichtet von einem Kulturschock, als sie das erste Mal zu Karstadt ging und die vielen Regale gefüllt waren. Wenn in Deutschland über Religion geredet wurde, dann war die Frage nicht, ob man gläubig war, sondern zu welcher Konfession man gehörte. Auch in Deutschland war die Kirche ein wichtiger Ort, sie war der erste Anlaufpunkt für soziale Kontakte und endlich konnten die Schwestern sagen und tun, was sie wollten, ohne rechtliche Folgen fürchten zu müssen. Sie hatten die Überwachung und Unterdrückung hinter sich gelassen.
Wir lernen aus den Interviews vor allem, dass religiöse Verfolgung nicht nur bedeutet, dass Menschen wegen ihres Glaubens gefoltert und getötet werden, sondern auch, dass Menschen von Chancen ausgeschlossen und mit Drohungen in Schach gehalten werden. Die Erfahrungen der Familie beschränkten sich mehr auf mentale Unterdrückung als auf physische Gewalt, und sie hatten einfach nicht die Möglichkeiten wie die Atheisten der Arbeiterklasse. In Westdeutschland gab es demnach wesentlich mehr Freiheit als in der Tschechoslowakei, was sowohl kleine Dinge wie die Freiheit sich zu kleiden einschloss sowie größere Güter wie Redefreiheit und keine Angst mehr vor Überwachung haben zu müssen.
In der Tschechoslowakei gab es zwar rechtlich betrachtet Religionsfreiheit, aber nicht in der Praxis. Für viele Menschen bedeutete die Unterdrückung, dass die einzige Möglichkeit für ein besseres Leben der Westen war. Diese drei Schwestern erzählten, wie sie es gemacht haben, und dass sie tatsächlich ein besseres Leben genießen dürfen.
Die Kinder der Schwestern sind christlich und jüdisch aufgewachsen und leben nun gemäß ihrer eigenen Wahl, die weder ihre Jobperspektiven noch ihre Sicherheit gefährden als freikirchliche Adventisten, Katholiken, Atheisten und Juden. Das ist Religionsfreiheit.